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Titel
Der Wert des Heiligen. Spirituelle, materielle und ökonomische Verflechtungen


Herausgeber
Bihrer, Andreas; Czock, Miriam; Kleine, Uta
Reihe
Beiträge zur Hagiographie (23)
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
234 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Kleinjung, Historisches Institut, Universität Potsdam

Dieser Sammelband ist aus einer Tagung des Arbeitskreises Hagiographie im April 2018 hervorgegangen. Er beschäftigt sich auf innovative Weise mit einem zentralen, aber oftmals wenig reflektierten Feld. Das Zusammenspiel von Ökonomie, Spiritualität und Materialität ist ein allgemein anerkanntes Paradigma der historischen Forschung, die Beiträge des Bandes behandeln auf den ersten Blick bekannte Themen. Es gilt als wissenschaftlicher Gemeinplatz, dass die Heiligen und das Heilige im Mittelalter die Sphären von Diesseits und Jenseits durchdrangen und miteinander verknüpften. In den meisten mittelalterlichen Lehrveranstaltungen dürfte zu irgendeinem Zeitpunkt behandelt werden, dass Heilige als juristische Personen als Eigentümer von Kirchengütern fungierten, durch den Schwur auf ihre Reliquien zu Rechtsgaranten für Verträge aller Art wurden – die Güterübertragungen an Klöster hatten nicht nur materiellen Wert, sondern begründeten eine Art „Tauschhandel“: Besitz gegen Gebet. Noch ein Beispiel soll genügen: Abschriften der Evangelien oder Sakramentare galten als heilige Texte, die mit kostbaren Einbänden aus Gold und Edelstein geschmückt waren, da sie „wertvoll“ waren. Aber welcher „Wert“ ist gemeint und in welchem Kontext erhält ein Objekt diesen „Wert“?

Die Kernfrage lautet: Lässt sich die Beziehung von Spirituellem zu Ökonomischen auf einer abstrakten Diskursebene fassen und welche Theorien und Methoden sind dafür geeignet? Der Begriff „Wert“ wird, wie Miriam Czock in ihrer Einleitung treffend feststellt, in der Geschichtswissenschaft allzu oft in einem alltagssprachlichen, unreflektierten Sinn verwendet, obwohl die mehrdimensionale Semantik von Wert und Werten (z.B. Preis/Münzwert, Aussagewert, ethischer Wert) zwingend eine Bestimmung und Eingrenzung bezogen auf den jeweiligen Untersuchungsgegenstand erfordere (bes. S. 12f., S. 17). Der Begriff „Tauschhandel“ für den komplexen Vorgang der Klosterschenkung macht deutlich, dass die Wissenschaftssprache versucht, die mittelalterliche Gedankenwelt in einen ökonomischen Ausdruck zu fassen: Ist dies gerechtfertigt? Eine Innovation des Sammelbands liegt in dem Aufdecken von „dunklen Ecken“ in vermeintlich hell erleuchten Forschungsfeldern.

Die Erforschung der Beziehungen von Heiligem und Ökonomie sind in der Geschichtswissenschaft vornehmlich sowohl von der Meistererzählung der bewussten Täuschung und ökonomischen Ausbeutung der Gläubigen durch den Ablasshandel im Spätmittelalter1 als auch von der sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Forschung geprägt. Diese hat Pierre Bourdieu folgend gerade die Leugnung/das Verschweigen des Ökonomischen als Kennzeichen des symbolischen Güterkreislaufs benannt.2 In der klassischen Religionswissenschaft wird das Heilige als das nicht an innerweltliche Kategorien gebundene Numinose und Unermessliche bzw. als Gegensatz von profan in einem polaren Unterscheidungsmodell gedacht.3 An diesem widersprüchlichen Bild setzt der inspirierende Sammelband an.

Der Aufbau orientiert sich erkennbar an dem Tagungs-Format. Nach der Einführung durch Miriam Czock folgen drei Sektionen. Diese bestehen jeweils aus kurzen einführenden Bemerkungen im Stil von Anmoderationen und darauffolgend zwei Beiträgen. In der ersten Sektion „Das Maß der Heiligkeit. Valuierungen“ untersucht Uta Kleine nach den einleitenden Bemerkungen von Claudia Alraum in einem grundlegenden Beitrag Schatzsemantik, Geldgebrauch und Güterzirkulation zwischen Himmel und Erde. Es folgt Philipp Zimmermann mit der Analyse des Werts der Armut und der Armen bei Venantius Fortunatus in der Radegundis- und der Martinsvita. Die zweite Sektion „(Ver)rechnen und (Verhandeln)“ wird eingeführt von Felicitas Schmieder, gefolgt von Stefans Esders zu Heiligen als juristische Personen, der aufzeigt, dass diese Denkfigur aus dem römischen Recht stammt und sich im Laufe des 7. Jahrhunderts entwickelte. Franziska Quaas macht in ihrem Beitrag zur kulturellen Semantik des Marktbegriffs in Spätantike und Frühmittelalter deutlich, dass die Marktsemantik nicht erst mit den wirtschaftlichen Veränderungen des 12. Jahrhunderts Einzug in das spirituelle Feld hielt, sondern dass vielmehr seit der Patristik ökonomische Begriffe für die Beschreibung von Heilsgeschehen und Glaubensinhalten verwendet wurden. In der dritten Sektion „Der Wert des Heiligen. Ideale, Umwertungen und Kritik“ finden sich die Einführung von Klaus Herbers sowie die Beiträge von Cordelia Hess und Volker Leppin. Cordelia Heß befasst sich mit der Frage des messbaren Erfolgs von Heiligen am Beispiel der skandinavischen Konversionszeit und plädiert für die Abkehr vom Konzept des „Erfolgs“ bei Heiligen. Eine Alternative zur klassischen Beurteilung mittels verschriftlichten Kults und Kanonisierung kann das Konzept der „Divergent Modes of Religiosity“ sein, das mündliche tradierte Kulte und Rituale mitberücksichtigt. Volker Leppins Beitrag zur Ablasskritik im späten Mittelalter macht deutlich, dass der Ablass zwar zum Mittelalter gehörte, aber schon vor der Reformation unter dem Zeichen der Innerlichkeit Kritik geübt wurde. Die abschließende vierte Sektion „Schätze des Heils. Die Repräsentation ethischer Werte in Sprache und Bild“ wird von Andreas Bihrer eingeleitet, es folgen die Beiträge von Gia Toussaint zu heiligen Handschriften, die die Kontextgebundenheit von Heiligkeit unter anderem am Beispiel des Augustinus-Evangeliars aus Canterbury aufzeigt, und von Stefan Laube zu Reliquienkapital und der Polyvalenz von Heiltümern zu Beginn des 16. Jahrhunderts am Beispiel der Heiltumsschauen und Wunderkammern. Den Abschluss bilden statt einer klassischen Zusammenfassung die mit „Nachhaltgedanken“ überschriebenen kritischen Reflexionen Ludolf Kuchenbuchs.

Es können hier leider nicht alle Einzelbeiträge ausführlich besprochen werden. Ich beschränke mich auf eine knappe persönliche Akzentuierung und summarische Würdigung wichtiger Gedanken. Die Einführung von Miriam Czock und die Nachbetrachtungen Ludolf Kuchenbuchs bilden eine gelungene Klammer um den gesamten Band. Ludolf Kuchenbuch bietet überzeugende Perspektiven für die Weiterentwicklung. Er greift Miriam Czocks Gedanken zur Verflechtung des Spirituellen, Ökonomischen und Materiellen auf und konstatiert, dass alle Beiträge geprägt sind vom „Dilemma, dass die modernen Umgangsweisen der Realitätsdimensionen des Heiligen und des Profanen, der Materie und des Geistes der Wirtschaft und des Glaubens das Verständnis mittelalterlicher Verhältnisse eher behindern als fördern“ (S. 210) – als problematisch erwiesen sich einerseits die Dimensionen selbst, ihre mittelalterlichen Inhalte und Wechselbeziehungen, sodann die moderne konzeptionelle Trennung und die Existenz als eigene Wissenschaften (u.a. Religionswissenschaft, Wirtschaftswissenschaften). Zur Überwindung dieses Dilemmas erscheint ihm die semantische Methode am geeignetsten: eine Historisierung der Schlüsselwörter und ihrer Relationen sowie eine Ergänzung um wort- bzw. textsemantische Untersuchung von ganzen Zeugnissen.

Der Band zeigt eindrücklich, dass die Auswertung von einschlägigen Auswahl-Zitaten neben textsemantischen Untersuchungen weiterhin ihre Berechtigung haben wird und gerade die Kombination von verschiedenen Methoden fruchtbringend sein kann. Weiterführend erscheint die Verwendung von sozialwissenschaftlich-anthropologischen Theorien und linguistischen Methoden. Die Diskussion, Weiterentwicklung der Thesen Marcel Maus‘, Pierre Bourdieus oder Harvey Whitehouses zeigen: Es gibt nicht nur eine Verflechtung oder ein Ineinandergreifen von Spirituellem, Materiellem und Ökonomie, sondern dass christliche Heilsmodell selbst war nach einer ökonomischen Matrix gestaltet und das Transzendente wurde konkret gedacht (Kleine, Esders). Belege gibt es bereits im Neuen Testament. Zentral ist die im Mittelalter ausgearbeitete Konzeption des Kirchenschatzes als Summe der materiellen Schätze mit symbolischem Mehrwert und des Gnadenschatzes als Summe der spirituellen Schätze (Kleine, Quaas). Neben der Kontextgebundenheit von „Wert“ und der Neubewertung von schriftlichen Quellen, Objekten und mündlicher Tradition (Heß, Toussaint) erscheint auch die Erweiterung des Kapitalbegriffs von Pierre Bourdieu um das mirakulöse und spirituelle Kapital (Laube) sinnvoll für weitere Untersuchungen. In Zukunft wird das Materielle in seinem ethischen Wert sicher noch mehr zu beachten sein (Bihrer).

Die Ergebnisse und die Kritik Ludolfs Kuchenbuchs sind anregend. Gerade die Vielfalt der Zugänge und die Behandlung der verschiedenen Ebenen von Heiligkeit überzeugen. Denn der eine Forschungsbegriff, der die komplexen Beziehungen der mittelalterlichen Sphären des Spirituellen, Ökonomischen und Materiellen adäquat abbildet, dürfte weitergesucht werden – und wird vielleicht nie gefunden werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. stellvertretend Christiane Laudage, Das Geschäft mit der Sünde. Ablass und Ablasswesen im Mittelalter, Freiburg 2016.
2 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976.
3 Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917; Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt am Main 1984.

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